Eine geheimnisvolle Kolonie
Die schöne Ortschaft Amden in der Schweiz ist dazu ausersehen, der Welt einen neueb Messias zu bringen. Seit einiger Zeit spricht man in der dortigen Umgegend von geheimnisvollen, steinreichen Leuten, die in Amden zu “fabelhaften Preisen” Grund und Boden kaufen und sich dort häuslich einzurichten beginnen. Der “Frankf. Ztg.” wird geschrieben, daß bisher auf dem Gebiete der Gemeinde für rund 400.000 Franken Liegenschaften an “Amerikaner” verkauft worden seien; die Preise sind nach Amdener Verhältnissen hoch; bezahlt wurde prompt und beim Handel gab’s kein Markten. Man reibt sich denn auch in dem armen Bergdorfe vergnügt die Hände; nur der Herr Pfarrer und der Herr Kaplan sind nicht gar erbaut von der geheininisvollen Geschichte, denn die reichen Eindringlinge gehören einer christlich-kommunistischen Sekte an, die aus Nordamerika herübergekommen ist und in dem weltverlorenen Bergneste eine Kolonie gegründet hat. (Wir haben schon einmal kurz darüber berichtet.) Gründer und Leiter der Kolonie soll ein Herr Klein sein, dessen Vorfahren in Mainz das Bürgerrecht besaßen; er selbst sei vor etwa fünfzehn Jahren aus Meran nach Nordamerika ausgewandert. Herr Klein hat schon vor zwei Jahren das Gut “Krappenhof” [sic!] bei Amden angekauft und sich dort häuslich niedergelassen. Bald sind andere Familien und auch einzelne Personen nachgekonmnen und der Gemeinschaft beigetreten. Jeder legt sein Hab und Gut in die gemeinsame Kasse; die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen, während die Unterkunft nicht kasernenmäßig eingerichtet ist. Die Leute siedeln sich nach ihrem Gutdünken in einem der angekauften Häuser an. Die “Viila Arbenz” in Weesen wird gegenwärtig für Künstler eingerichtet. Es soll auch eine Marienkapelle in Amden gebaut werden, und wenn es die Regierung erlaubt, so wird die Kolonie auch eine eigene Schule auftun. Die Sekte erwartet einen neuen Christus, der zu Ostern 1904 in Amden sein Reich aufrichten soll. (Da brauchen wir erfreulicherweise nicht lange zu warten, um zu sehen, ob die Gläubigen recht haben und ob es zweckmäßig ist, ihrer Sekte beizutreten.)
Die Zeit (Wien), 2. Jahrg., 7. November 1903, Nr. 398, S. 7. Online