Himmlische Enttäuschung

Himmlische Enttäuschung

Himmlische Enttäuschung

1904 zeichnete Fidus in Zürich den Rahmenschmuck für das Gedicht Himmlische Enttäuschung von Max Kretzer. Dieses erschien in im April desselben Jahres der Berliner Illustrierte Zeitung.1

Himmlische Enttäuschung

Der Engel meiner Kindheit war erschienen
Ein altgelobtes Wort mir einzulösen:
Zu führen mich in seine Himmelsheimat,
Wo sonnig blaut der Dom in blauen Weiten
Und wo Erlösung herrscht von allen Uebeln.

Als wir durchschwebt die ew’ge Todesstille,
Wo Reinheit thront auf weichen Lüftenwogen,
Kam es wie Menschenstimmen angezogen,
Die jäh gebrochen in der Klangesfülle.
Und stärker schwoll es an: Wie Geisterreigen
Hört‘ ich die Stimmen auf und nieder steigen,
Bis in des Tongetaumels hohlem Branden
Sich jeder Menschensprache Laute fanden.
Und auf mein Fragen gab der Engel kund:
„Was Du hier hörst aus unsichtbarem Mund –
Das ist das Echo der Millionen Seufzer,
Die unaufhörlich von der Erde dringen,
Wo Leid und Schmez des Himmels Trost erwarten;
Denn aller Sehnsucht geht zuerst nach oben.
Du hörst der Hoffnung Seufzer leis ertönen,
Hörst die Verweiflungsvollen trübe stöhnen,
Hörst Gram und Hunger schamvoll wiederklingen
Und hörst der Todgeweihten letztes Ringen.
Was dumpf vermurrt wie unterm Grabestuch,
Ist eines Mörders letzter Lebensfluch,
Und was verweht wie sanftes Dämmerhallen,
Ist eines Kindes letztes Sterbelallen.“

Und Grauen packte meine müde Seele,
Erdabwärts ging das Ziel nun meines Wunsches,
Was sonst hier unten wurde still beweint,
Sah ich im Himmelsdom schreckhaft vereint.

Der untere Teil des Rahmenschmucks betitelt „Stimmen des Zwischenreichs“ wurde 20 in einer Auktion von Bassenge verkauft.2

  1. Berliner Illustrierte Zeitung, Nr. 17, 24. April 1904, S. 267. Später erschien das Gedicht als Separatdruck mit der Katalognummer 253 des Fidus-Verlags. Vgl. auch Erste Gesamtausstellung der Werke von Fidus zu seinem 60. Geburtstage am 8. Gilbhart (X.) 1928, Woltersdorf bei Erkner [1928], S. 35, Nr. 597. Im Laufe deselben Jahres veröffentlichte die Zeitung zudem von Fidus den Rahmenschmuck zum Gedicht Ungenossenes Glück von Jenny Schnabl (Nr. 28, 10. Juli 1904, S. 443), eine Zeichnung zum Gedicht Traum des Südens von Maurice von Stern (Nr. 48, 27. November 1904, S. 779) und die Illustration zum ersten Teil des Vorabdrucks von Kretzers Roman Mann ohne Gewissen (Nr. 50, 11. Dezember 1904, S. 823) sowie eine Vignette für dessen Vorankündigung (Nr. 47, 20. November 1904, S. 763). []
  2. 8532, Feder in Schwarz auf festem Velin. 1904. verso bezeichnet „Diese Leiste bildet den untern Teil eines Randschmucks zu Max Kretzers ‚Himmlische Enttäuschung‘, Berl. Ill. Ztg. 1904“. []